Bildauschnitt historisches Rathauses in Walldürn mit Fachwerk

Stadtnachricht

Urkunde "entschlüsselt"


Im April dieses Jahres wurde mit dem Abriss der Turnhalle in der Keimstraße begonnen. Der 1. Vorsitzende des Turnvereins Walldürn Leo Kehl hat mit weiteren Vereinsmitgliedern den alten Grundstein und die darin enthaltene Zeitkapsel gesichert. Zum Vorschein kam dabei unter anderem eine Urkunde mit Siegelabdruck der "Stadtgemeinde Walldürn" aus dem Jahr 1910, welche die Unterschrift von Bürgermeister Nimis trägt (Bürgermeister von 1909 - 1919). Das Dokument wurde weitestgehend in der sogenannten Sütterlinschrift verfasst. Der Verfasser hat die für ihn wichtigen Passagen jedoch in lateinischer Schrift hervorgehoben.

Die Stadt Walldürn informierte über einen Post in den sozialen Medien wie z.B. Facebook über den Urkundenfund. Meikel Dörr, zuständig für die Öffentlichkeitsarbeit bei der Stadt Walldürn, zeigte sich bei der Auswertung der Insights positiv überrascht: "Wie wir den Statistiken und Interaktionen entnehmen konnten, dauerte es nur wenige Tage bis unser Post zum Urkundenfund auf knapp 6.000 Bildschirmen angezeigt wurde." In den darauffolgenden Tagen wurde die Stadtverwaltung Walldürn auf verschiedenen Wegen gebeten, den Urkundentext noch komplett zu veröffentlichen.

Mit dem Ehepaar Sonja und Bernhard Schirmer fand die Stadtverwaltung zwei Walldürner Bürger, die sich beruflich oft mit der Sütterlinschrift befassen mussten. Frau Schirmer war viele Jahre als Ratschreiberin im Grundbuchamt Walldürn tätig. Da die alten Grundbücher in der Sütterlinschrift erstellt und teilweise fortgeschrieben wurden, hatte sie bereits viele Berufsjahre mit dem Schriftbild gearbeitet. Herr Schirmer kam bei seiner Tätigkeit als Dipl.-Ingenieur (FH) für Vermessungswesen ebenfalls immer wieder mit alten Grundbüchern und Karten in Berührung. Beide betonten gegenüber Meikel Dörr, wie viel Spaß sie am "Entschlüsseln" der Sütterlinschrift in der Urkunde hatten. Für Walter Gramlich, dem Träger des Ehrenrings der Stadt Walldürn, war es eine Ehrensache im Anschluss als Lektor zu fungieren. Aus der Urkunde konnte er sogar Informationen für das Bezirksmuseum gewinnen.

Die im Stadtbauamt der Stadt Walldürn tätige Bauzeichnerin Linda Steinbach schaffte es, die Urkunde in ihrer ursprünglichen Form als Grafik zu digitalisieren. Diese Arbeit brachte jedoch die eine oder andere Herausforderung mit sich, wie z.B. die Länge der Urkunde mit über 1,50 m oder das sehr bruchanfällige Papier.

Die Stadtverwaltung beabsichtigt ein Replikat der Urkunde im Neubau der Turnhalle Keimstraße aufzuhängen sowie ein weiteres Replikat in den neuen Grundstein zu legen.

Wir haben für Sie die Urkunde bzw. deren Inhalt in drei verschiedenen Arten aufbereitet.
1. die digitalisierte Urkunde
2. die digitalisierte Urkunde mit zeilenweiser Darstellung in lateinischer Schrift
3. den reinen Urkundentext in lateinischer Schrift

Mit einem Mausklick auf das jeweilige Bild können Sie dieses vergrößern.


1. digitalisierte Urkunde (zum Download hier klicken):
Urkunde aus dem Zeitkapselfund Turnhalle Keimstrasse

2. Urkunde mit einer zeilenweisen Darstellung in lateinischer Schrift (zum Download hier klicken):
Urkunde aus dem Zeitkapselfund Turnhalle Keimstrasse mit Lateinschrift

3. reiner Urkundentext:
URKUNDE
Der Turnverein Walldürn eingetragener Verein zum Main-Neckargau (Ostbezirk) X. Turnkreis und zur Deutschen Turnerschaft gehörig, wurde am 20. Juli 1889 mit 30 Mitglieder unter dem ersten Vorstand Herrn Wilhelm Bulster Drehermeister dahier gegründet und hielt unterm 22. Mai 1892 verbunden mit dem Gauturnfest seine Fahnenweihe.
 
Lange Jahre beschäftigte sich der Verein mit dem Gedanken zur Erstellung eines eigenen Turnheimes da nur im Sommer auf dem Ziegler’schen Bierkeller geturnt werden konnte und für den Winterturnbetrieb kein geeignetes Lokal zur Verfügung stand. Jedoch fehlten hierzu vorerst die nötigen Mittel und seitens der Gemeinde stand dem Turnverein keinerlei Unter-
stützung hierzu in Aussicht. Aus den Ersparnissen des Turnvereins und durch Ausgabe von Aktien á M 5,- erwarb sich der Verein ein Wiesengrundstück im Gewann Hofacker (am sogenannten Mühlweg) im Jahre 1903 um den Preis von M 650,- welches sich hiernach zu geplantem Turnhallenbau als zu klein erwies.
 
Es wurde daher dieses Grundstück bald darauf wieder um M 720,- verkauft, welche Summe als erstes Kapital verzinsbar bei der Walldürner Volksbank e. G. m. u. H. angelegt wurde. Unter der Vorstandschaft des Herrn Bezirksrates Theodor Link von hier und mit Unterstützung der Verwaltungsratsmitglieder wurde 1909 auf 1910 die Erbauung einer eigenen Turnhalle in ernsterem Antrieb gezogen durch Veranstaltung einer Lotterie pro Los 50 Pfg innerhalb der deutschen Turnerschaft, durch Versteigerungen von Gegenständen und Sammlung mit der Vereinsschnupftabaksdose bei Turnkneipen sowie Ausgabe von Aktien á M 5,-.
 
Dadurch erwarb sich der Verein ein Barvermögen von M 6500,- woraus zunächst der jetzige Platz bestehend aus zwei Wiesen von  den Landwirten Franz Hennig und Alois Christofel um den Gesamtpreis von M 3600,- angekauft wurden. Die Plananfertigung und Bauaufsicht lag in den Händen des Architekten Herrn Hermann Bonn von hier.
 
Im Juli 1910 wurden die Arbeiten zum Neubau ausgeschrieben und am 11. August 1910 im Submissionswege wie nachstehend vergeben:
Erdarbeit: Alois Gerold und Wilhelm Berberich (:Preisturner:)  von hier
Maurer- u. Steinhauerarbeit: Otto Stumpf Maurermeister         „      „
Zimmerarbeit: Kornel Eichhorn Zimmermann                          „       „
Verputzarbeit: (noch nicht vergeben)
Schreinerarbeit: Karl Zahn Schreinermeister                          „       „
Blechnerarbeit: Franz Lang Blechnermeister (:Preisturner:)     „       „
Schlosserarbeit: Albert Kieser junior Schlossermeister           „       „
Glaserarbeit: Johann Goos Glasermeister                             „       „
Tüncherarbeit: Franz Schneider Malermeister                        „       „
Dachdeckung: Firma Kaiser & Böhrer Dampfziegelei in Höpfingen
 
Etwa 14 Tage nach der Vergebung wurde der Bau in Angriff genommen und diesen Herbst noch unter Dach gestellt. Im Frühjahr 1911 sollen die inneren Arbeiten ausgeführt und bis Juli d. Js. vollendet sein, sodaß derselbe seinem Zwecke übergeben und in Verbindung mit dem Gauturnfest die Turnhalle feierlich eingeweiht werden kann. Die Kosten des Turnhallenneubaues belaufen sich ohne Bauplatz auf circa M 20.000,-. Das oben erwähnte
Kapital reichte hierzu bei weitem nicht aus mußte daher hierzu eine Anleihe in Höhe des fehlenden Betrages gemacht werden. Das ununterbrochen beibehaltene Vereinslokal seit Gründung ist das Nebenzimmer der Wirtschaft von Adolf Ziegler hier, welcher auch Besitzer des seitherigen Sommerturnplatzes ist. (Bierkeller).
 
An der Spitze des Turnvereins der zur Zeit 150 Mitglieder zählt – standen seit Gründung folgende I. Vorstände:
1.     Herrn Wilhelm Bulster Drehermeister dahier
2.     Herrn Hauptlehrer Bartholomäh z. Zt. in Steinbach
3.     Herrn Hauptlehrer Bindert dahier
4.     Herrn Heinrich Kieser Wachswarenfabrikant dahier
5.     Herrn Wilhelm Treiber Kaufmann z. Zt. in Tauberbischofsheim
6.     Herrn Joseph Stalf Spenglermeister dahier
7.     Herrn Hauptlehrer Philipp Zimmermann z. Zt. Direktor der Landes-Erziehungsanstalt Flehingen
8.     Herrn Theodor Link Privatier, Bezirks- und Stadtrat dahier
 
Die Stadtgemeinde Walldürn unter dem Oberhaupt des Herrn Bürgermeisters Wilhelm Nimis zählt nahezu 4000 Einwohner und gehört zum Kreis Mosbach und Bezirksamt Buchen. Es befindet sich hier ein Amtsgericht mit Amtsgefängnis, Notariat, Forstamt, Gewerbe- Volks- Industrie- Hoch- Haushaltungs- u. Privatkinderschule. Gegenwärtig werden die Pläne für Erstellung eines neuen Volksschulgebäudes in Verbindung mit einer höheren Lehranstalt angefertigt und ist der Bauplatz für fraglichen Neubau neben der Turnhalle angekauft.
 
Die Industrien sind: Fabrikation von künstlichen Blumen wobei ein großer Teil der Einwohner als Fabrik- und Heimarbeiter Verdienst finden, ferner Zucker- und Wachswarenfabrikation. Eine alte bedeutende Industrie besteht dahier in der Gewinnung
und Bearbeitung von rotem Sandstein und weißem Muschelkalkstein welch‘ letzterer zu den hervorragenden Zwecken im Inn- u. Ausland Verwendung findet.
 
Die seit Jahrhunderten dahier bestehende Stadt- u. Wallfahrtskirche zum heiligen Blut und das damit verbundene Stadtpfarramt steht in Verwaltung und Obhut des Hochwürdigen
Herrn Stadtpfarrers und Geistlichen Rates Josef Bechtold welchem z. Zt. noch zwei Kapläne zur Seite stehen. An der Buchener Straße neben dem Forstamte in der Nähe des Bahnhofes besteht unter dem Namen „Erzbischöfliches Armenkinderhaus“ eine Anstalt (früher Zündholzfabrik) in welcher arme und Waisenkinder unter Leitung von Schwestern des Franziskaner-Ordens Aufnahme und Erziehung finden. Für Kranke und Pfründner ist hier ein Spital „St. Josefskrankenhaus“, am sog. Mühlweg, erbaut 1904, unter Leitung von barmherzigen Schwestern. Der leidenden Menschheit stehen hier zwei prakt. Ärzte und eine Apotheke zur Seite, des weiteren hat Walldürn seit einigen Jahren eine besetzte Tierarztstelle.
 
Walldürn ist zur Zeit der Mittelpunkt der Eisenbahnen Miltenberg – Seckach und der gegenwärtig im Bau begriffenen Strecke Walldürn – Hardheim die 1911 eröffnet werden soll. Die Wasserversorgung vertritt seit 1893 eine mustergiltige städtische Wasserleitung mit Pumpstation. Für die Straßen- und Hausbeleuchtung sorgt das 1909
erbaute städtische Gaswerk. Gegenwärtig wird auch Walldürn mit geeigneter
Kanalisation versehen.
 
Der Oberste Schutz- und Schirmherr unseres seit 1870/71 geeinigtem neuen deutschen Reiches ist: Seine Majestät Kaiser Wilhelm II. Unser regierender badischer Landesfürst ist: Seine Königliche Hoheit Großherzog Friedrich II.
 
Die deutsche Reichswährung besteht in:
            Kupfer:         Ein- u. Zweipfennigstücke.
            Nickel:           5 u. 10 u. 25 Pfennigstücke.
            Silber:            ½ Mark, 1 Mark, 2 Mark, 3 Mark, 5 Mark.
            Gold:             10 Mark u. 20 Mark.
            Papiergeld   (: Reichsbanknoten:)        5 M., 10 M., 20 M., 50 M., 100 M. & 1000 M.
 
Der Turnverein Walldürn legt nun heute Samstag Nachmittag den ersten Oktober des Jahres eintausendneunhundertundzehn diese Urkunde anlässlich der Grundsteinlegung des eigenen Turnhallenbaues feierlichst und unter den üblichen drei Hammerschlägen nieder mit dem Wunsche auf Glück und ferneres Gedeihen des Vereines, zur Pflege der edlen Turnerei und zum Wohle des ganzen deutschen Vaterlandes.
 
Der Turnrat:
Theodor Link I. Vorstand.
Buchdruckermeist.  F. A. Lang II. Vorstand.
Färbermeister         Heinr. Kast Kassier.
Kaufmann              Wilh Klein Schriftführer.
Briefträger              August Bauer I. Turnwart
Kaufmann              Vinzenz Aug Löhr II. Turnwart.
Friseur                   August Klein Zeugwart.
Buchhalter             Leopold Dörr Kneipwart und Turnrat .
Kaufm.                   Alois Buchinger Turnrat
Waldhüter              Joh. Schneider Diener.
 
Bürgermeisteramt Walldürn
 NIMIS
 
Dienstsiegel

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Redakteur / Urheber
Amt für Öffentlichkeitsarbeit - MD